Berliner Morgenpost: Nervtötend, aber wichtig / Leitartikel von Julia Emmrich zur Debatte über das Bürgergeld

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Berlin (ots) –

Der Ton wird schriller, die Zeit drängt, der 1. Januar rückt näher: Aus dem Streit ums Bürgergeld ist ein erbitterter Machtkampf zwischen Regierung und Opposition geworden. Ampel-Leute werfen der Union vor, das Nachfolgemodell zum Hartz-IV-System mit populistischen AfD-Methoden und Fake News im Stil von Donald Trump zu bekämpfen und das Land zu spalten.

Unionsleute wiederum geißeln die geplante Sozialreform der Bundesregierung als Freifahrtschein für Faulenzer und werfen der Ampel Arroganz, gezielte Beleidigungen und politische “Brunnenvergiftung” vor.

Ärgerlich für die Ampel-Leute: Sie brauchen die Union, um ihre Pläne durch den Bundesrat zu bekommen. Ärgerlich für alle Leistungsbezieher: Ohne eine Einigung zwischen Regierung und Opposition können die Bezüge zum 1. Januar nicht steigen. Und ärgerlich für die Union: Sie könnte nachher als Verhinderer von dringend nötigen Entlastungen dastehen.

Für Millionen Menschen, die gerade nicht wissen, wie sie am Monatsende noch den Kühlschrank füllen sollen, die mit Blick auf die kommenden Monate nicht mehr schlafen können, wäre eine schnelle Einigung ein wichtiges Signal. Doch es ist richtig, dass so erbittert gerungen wird. Manchmal hilft es, einen Schritt zurückzutreten, aus dem Getümmel heraus, um klare Sicht zu bekommen. In diesem Fall zeigt sich: Der Streit um das Bürgergeld ist ein politisches Schauspiel wie aus dem Lehrbuch. Die Regierung will eine große Sozialreform durchsetzen und sich damit in die Geschichtsbücher schreiben, die Opposition will einen “Systemwechsel”, wie sie es nennt, verhindern. Die Argumente auf beiden Seiten sind solide – man sollte sie nicht einfach mit dem gegenseitigen Ideologie-Vorwurf vom Tisch wischen.

Zwei Maximen gibt es, die in dieser Debatte leitend sein sollten. Maxime Nummer eins: In einem wohlhabenden Land wie Deutschland soll niemand, kein Erwachsener und erst recht kein Kind, unwürdig leben müssen. Maxime Nummer zwei: Es muss sich lohnen zu arbeiten. Wer über 40 Stunden pro Woche schuftet, am Ende aber nur ein paar Euro mehr in der Tasche hat als der Nachbar, der möglicherweise trotz eines vollen Sparbuchs von staatlicher Unterstützung lebt, kann zu Recht der Politik einen Vogel zeigen.

Eine Sozialreform, die das umstrittene Hartz-IV-System ablösen will, muss nicht nur Maxime eins, sondern auch Maxime zwei erfüllen. Bei den ursprünglichen Bürgergeld-Plänen der Ampel bestanden Zweifel, ob das wirklich gelingen würde.

Inzwischen hat die Ampel nachgebessert – und damit eingestanden, dass der Ursprungsentwurf Schwächen hatte. Doch diese Nachbesserungen reichen der Union nicht. Weil sie sich weiter an wesentlichen Punkten des Bürgergelds stört. Die wichtigsten Kritikpunkte: hohes Schonvermögen, lange Vertrauenszeiten, zu schwache Sanktionsmöglichkeiten.

Und nun? Ist das Bürgergeld gescheitert? Noch nicht. Denn auch die Union will das bestehende Hartz-IV-System reformieren. Das Ringen darum ist zwar für viele nervtötend, aber wichtig.

Regierung und Opposition haben in den vergangenen Krisenjahren gezeigt, dass sie schnell sein können, wenn alle es wollen. Bis zum 1. Januar sind es noch acht Wochen. Der Druck, der damit auf der Politik lastet, ist jedoch nichts gegen den Druck, den viele Menschen an der Armutsgrenze gerade verspüren. Die dritte Maxime sollte deshalb heißen: Am Jahresende muss die Hartz-IV-Reform fertig sein.

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Quelle:Berliner Morgenpost: Nervtötend, aber wichtig / Leitartikel von Julia Emmrich zur Debatte über das Bürgergeld


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