Die Größe im Scheitern / Kommentar von Raimund Neuß zum Tod von Michail Gorbatschow

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Köln (ots) –

Wer war Michail Gorbatschow? Dass es über ihn so viele widersprüchliche Urteile gibt, zeigt die Bedeutung dieses Mannes, dessen Scheitern seine weltgeschichtliche Bedeutung ausmacht. Das Handeln des Michail Gorbatschow ist nicht auf einen Nenner zu bringen.

In Deutschland wird die Dankbarkeit für den Mann niemals enden, ohne den die deutsche Einheit nicht möglich geworden wäre. Die Fotos vom Treffen mit Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher im Kaukasus haben hier zu Lande ikonischen Rang. In Russland hingegen gilt Gorbatschow als der Totengräber der Sowjetunion. Entsprechend schmallippig fiel die Würdigung des heutigen russischen Präsidenten Wladimir Putin aus. Und in Ostmitteleuropa vergisst man Gorbatschow den Blutsonntag von Vilnius nicht, die von ihm veranlasste Militäraktion vom 13. Januar 1991 gegen das nach Unabhängigkeit strebende Litauen, bei der 14 Menschen starben. Der vermeintliche Totengräber wollte das rote Zarenreich eben retten, durch Reformen wie durch Gewalt. Noch zwei Jahre vor seinem Tod lobte der Friedensnobelpreisträger die Okkupation der Krim durch Sowjet-Nostalgiker Putin.

Helmut Kohl sah die Balten 1991 auf dem falschen Weg, hätte die Sowjetunion gern gerettet und eine Nato-Osterweiterung verhindert. Einschlägige Andeutungen Genschers gegenüber Gorbatschow, aus denen die Missachtung der souveränen Rechte anderer Staaten sprach, weckten bis heute nachwirkende falsche Erwartungen. Diese sehr spezielle Geschichte der Deutschen mit ihrem “Gorbi” gehört zu einer langen Kette ihrer Versuche, sich mit Moskau zum gemeinsamen Vorteil zu arrangieren – und zwar zu Lasten aller Menschen, die das Pech haben, dazwischen zu leben. Ob Egon Bahr 1981 Verständnis für das Kriegsrecht in Polen zeigte oder ob Angela Merkel noch nach der Krim-Okkupation das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 durchgehen ließ: Es ist eine unselige Tradition imperialer Rücksichtslosigkeit, die Historiker bis zu den polnischen Teilungen des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen mögen.

Das muss jetzt endlich aufhören, so wie das Sowjetimperium vor drei Jahrzehnten sein Ende gefunden hat. Gorbatschow hat dieses Ende nicht gewollt, musste aber einsehen, dass die Geschichte einen anderen Weg nahm. Und er hatte das menschliche und politische Format, dies hinzunehmen. Sein historisches Bewusstsein macht Gorbatschow, den Gescheiterten, zum großen Politiker – sehr im Unterschied zum Geschichtsphantasten Wladimir Putin, dessen verheerenden Krieg Gorbatschow in seinen letzten Lebensmonaten noch mit ansehen musste.

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Kölnische Rundschau
Raimund Neuß
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Quelle:Die Größe im Scheitern / Kommentar von Raimund Neuß zum Tod von Michail Gorbatschow


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