Ungewiss / Kommentar von Christoph Cuntz zum Urteil im Prozess um den Lübcke-Mord

0
14

Mainz (ots) – Glauben heißt nicht wissen. Der Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht Frankfurt glaubt zu wissen, dass Stephan Ernst in der Nacht zum 2. Juni 2019 alleine nach Wolfhagen-Istha gefahren war, um dort den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke zu erschießen. Das Motiv: Ernst, der fanatische Fremdenhasser, habe die von Lübcke vertretene Flüchtlingspolitik verachtet. Doch Gewissheit, was sich in dieser Tatnacht ereignet hat, gibt es auch nach 45 Prozesstagen nicht. Denn Stephan Ernst ist der Einzige, der über den Mord an Walter Lübcke ausgesagt hat. Aber er hat in drei Geständnissen drei unterschiedliche Tatversionen geliefert. So hat sich das Gericht an jene Version gehalten, die die wahrscheinlichste ist. Für die Behauptung des Angeklagten, sein einstiger Kamerad Markus H. sei ebenfalls in Istha gewesen, gibt es keinerlei Beweise. Das mag für die Hinterbliebenen – für die Witwe und die beiden Söhne – schwer verständlich sein. Der Senat aber hat keine andere Wahl. Die Fehler im Fall Stephan Ernst hat die Justiz nicht bei der Aufklärung des Mordes an Walter Lübcke gemacht. Fehler hat die Justiz freilich in den Jahrzehnten zuvor zu verantworten, in denen Ernst immer wieder mit zum Teil schwersten Straftaten aufgefallen war, für die er immer wieder erstaunlich milde Richter gefunden hatte. Dies, obwohl ihm psychiatrische Gutachter schon in den 90er Jahren einen massiven, pathologischen Fremdenhass diagnostiziert hatten. Fehler waren aber auch den Sicherheitsbehörden unterlaufen, die Stephan Ernst jahrelang als gewaltbereiten Rechtsextremisten im Visier hatten, die ihn dennoch in den Jahren vor dem Attentat vom Radar nahmen, obwohl er sich nach wie vor bei Neonazis angebiedert hatte. Der hessische Verfassungsschutz hat sich zu diesem Fehler bereits bekannt. Jetzt wird zu klären sein, ob es hinter Stephan Ernst ein rechtsextremes Netzwerk gab, das ihn zum Attentat auf Walter Lübcke ermunterte: Dies ist Aufgabe des Untersuchungsausschusses, den der hessische Landtag bereits eingesetzt hat. Wenn der seine Arbeit beendet hat, wird man etwas mehr wissen und etwas weniger glauben müssen. Vor einem Irrglauben sei indes gewarnt: Vollständige Gewissheit über das, was in der Tatnacht geschah, wird es auch dann nicht geben.

Pressekontakt:

Allgemeine Zeitung Mainz
Zentraler Newsdesk
Telefon: 06131/485946
desk-zentral@vrm.de

Quelle:Ungewiss / Kommentar von Christoph Cuntz zum Urteil im Prozess um den Lübcke-Mord


Importiert mit WPna von Tro(v)ision

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.